Wieder hat unsere Planet fast einmal unsere Sonne umrundet. Von Krise, Krieg und Umweltkatastrophen gejagt, sind wir auf unserem Raumschiff – einem großen, runden und ziemlich blauen Felsbrocken – durch den Weltraum gehetzt, getrieben von schmieriegen Schlagzeilen, populistischen Politikern und dem ganz alltäglichen Abfuck.
Blicke ich ein Jahr zurück, so ging es mir damals gesundheitlich deutlich schlechter. Das ist schön, beudetet aber entgegen der automatischen Annahme Vieler nicht, dass es mir heute „gut“ geht. Nein, ganz im Gegenteil. Im Laufe des Jahres ging es mir ebenfalls deutlich besser als jetzt in diesem Moment, in dem ich diesen Text schreibe. Aber eben auch da nicht „gut“, im Sinne von „gesund“; nein, ich war nur weniger krank. Und natürlich gibt es in genau diesem Moment LongCovid-Patienten, denen es noch deutlich schlechter geht, als es mir jemals ging. Diesen Umstand habe ich im Laufe des Jahres anderen Menschen gegenüber aufgegeben zu erklären. Nicht, weil ich es nicht für wichtig halte.
Erst seit Beginn meiner Krankheit verstehe ich die Bedeutung von „gesund“, und ich halte es für unabdingbar, diese Bedeutung, beziehungsweise die Bedeutung der Abwesenheit dieses Wortes, alljenen zugänglich zu machen, die das Glück haben, es nicht am eigenen Leib erfahren zu müssen. Doch Menschen haben einen begrenzten Horizont, sind eingeschränkt in ihrer Vorstellungskraft, treffen falsche Schlussfolgerungen, sind dumm. Sie wollen oder können nicht verstehen, dass „gesund“ ein Extrempunkt oder besser Extrembereich auf einem sehr komplexen, kontinuierlichen Graphen darstellt. Und, dass der Bereich, der alles andere als „gesund“ darstellt, unvergleichbar viel größer ist. „Momentan geht es mir ganz brauchbar, heute ist okay, gestern war schlecht, letzte woche war gut, aber es geht mir schlechter als im Sommer“ ist dementsprechend eine Aussage, die die geistigen Kapazitäten der meisten Menschen überfordert. Und das wiederum führt unweigerlich zu irritation, in vielen Fällen auch ob der Erkenntnis über das eigene Unvermögen, diese Antwort auf die harmlose Frage „wie gehts dir?“ einzuordnen, zu Anfeindungen, Mistrauen und dem Vorwurf, alles nur vorzugaukeln, um sich gegenüber anderen Vorteile zu ergaunern; seien es Neurologen, Arbeitgeber oder sonstige Parteien. So bekam ich beispielsweise im Sommer bei 38 Grad in einem Büroraum den Vorwurf zu hören, ich hätte meine Krankheit die letzten zwei Jahre vorgegaukelt, weil ich ohne Gehstock und ohne Atemschutzmaske zugegen war. Solche Menschen nenne ich dumm. Ja, an diesem Tag ging es mir recht gut und bei über 30°C wird es für mich so anstrengend, mit Maske zu Atmen, dass ich das Risiko einging, keine Maske zu tragen. Dass ich eine ordentliche Dosis Schmerzmittel intus hatte und mir eigentlich alles an dieser Anwesenheit zu viel war, konnte leider niemand sehen. Augrund der Schmerzmittel bewegte ich mich aber natürlich nicht wie ein 90-jähriger. Das wiederum konnte natürlich jeder sehen. Im Folgenden musste ich mir Beschimpfungen, Verleumdung und sogar Drohungen anhören, in anderen Situationen sogar Handgreiflichkeiten ertragen. Alle ohne weiteren Belang und für mich Unbeeindruckend, aber als Betroffener wundert man sich schon.
Lasse ich solche Vorfälle bei Seite, ist dieses Jahr immer noch unglaublich viel passiert. Eine gefühlt nicht enden wollende Großbaustelle durch eindringendes Wasser, Aufregung in der Nachbarschaft, der unverhoffte Wechsel zu einem neuen Arbeitgeber; ein beinahe beschwerdefreier Sommerurlaub in die italienische Hochsommerhitze. Trotz der Herausforderungen konnte ich dieses Jahr kleine Runden Fahrrad fahren – nur wenige hundert Meter zwar und in mäßigem Tempo, aber verglichen mit dem Vorjahr ist das ein Unterschied wie Tag und Nacht; viele Spaziergänge, Besuche von Freunden und schöne Unternehmungen, mehr mögliche Spontanität und Belastbarkeit. Ich war seit zwei Jahren wieder alleine Einkaufen, konnte öfters in die Stadt laufen. Planbarkeit hat wieder Einzug in unser Leben gefunden.
Wo ich prozentual mit meiner körperlichen Leistungsfähigkeit verglichen zu meinem früheren gesunden Zustand stehe, kann ich nicht mit Sicherheit sagen. Die Einschränkungen sind mein Alltag geworden, ich habe mich daran gewöhnt. Doch ich kann zum Glück sagen, es ist ertragbarer, kalkulierbarer, lebbarer geworden. Und ich bin sicher, ich werde die 80% Leistungsfähigkeit meines früheren Lebens wieder erreichen. Es ist nur die Frage, wann.
Ich merke, ich bin müde geworden, ruhiger, vielleicht ein wenig resigniert. Ich konsumiere kaum noch Nachrichten, nur noch das wichtigste. Angesichts der Klimaentwicklungen verspüre ich oft den Drang oder das Bedürfnis, JETZT sofort etwas zu tun, doch ich kann nicht. Umso froher bin ich, dass es diejenigen Menschen gibt, die gesund sind, und Ihre ganze Möglichkeit in Aktivismus investieren. Sei es fürs Klima, Menschenrechte, oder sonstiges. Ich habe mehr Demut gegenüber dem Gegebenen, seien es Ungerechtigkeit, Ärgernisse, die besagte Beschränktheit von Menschen oder, dass es in einem Laden namens „Der Große Hosenoutlet“ (Name geändert) keine einzige passende Hose in meiner Größe gibt, bei C&A in der überschaubaren Herrenabteilung dagegen schon.
„Nicht meine Affen, nicht mein Zirkus.“ ist die Devise.
Ich kann Menschen nicht zum Verständnis zwingen. Wer mir zuhört, der wird mich, der wird meine Krankheit, verstehen. Wer nicht, dem kann ich nicht helfen. Und der wird nicht viel länger Teil meines Lebens sein. Ich schulde dummen Menschen nichts. Denn dafür habe ich – ganz egoistisch und pragmatisch – keine Zeit, keine Geduld und keine Kraft.