Verträumt, vielseitig interessiert, aber schnell abgelenkt, unaufmerksam in der Schule und für die Hausaufgaben ewig brauchen: Das sind nur ein paar typische Symptome für ADS, das Aufmerksamkeits-Defizit-Syndrom.
Die Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung (ADHS) gehört zur Gruppe der Verhaltens- und emotionalen Störungen mit Beginn in der Kindheit und Jugend. Sie äußert sich durch Probleme mit Aufmerksamkeit, Impulsivität und Selbstregulation; manchmal kommt zusätzlich starke körperliche Unruhe (Hyperaktivität) hinzu.
Wikipedia – https://de.wikipedia.org/wiki/Aufmerksamkeitsdefizit
Menschen mit ADS können Reize durch eine Botenstoffstörung nur bedingt priorisieren und ausfiltern. Die Folge: Reizüberflutung bei vielen Menschen, großen Events, viel Lärm und Licht, mangelnde Aufmerksamkeit, schlechte Konzentration, Anstrengung und Erschöpfung. Nicht nur, aber sicherlich hauptsächlich deshalb war ich nie der Typ für große Cliquen, volle Städte oder einen Discobesuch. Ich habe das Gefühl, von den Reizen überrollt zu werden – darin zu ertrinken.
Erste Symptome und „Probleme“ traten in der Grundschule auf. Ich ließ mich von meinen Mitschülern und Tischnachbarn ablenken, schrieb langsam und fehlerhaft, verlor oft den Faden, verträumte die Nachmittage über meinen Hausaufgaben und bereitete meinen Eltern bereits erste Kopfzerbrechen. Die Unaufmerksamkeit im Unterricht konnte man durch Umsetzen an den „Mädchentisch“ handhaben, für Leseprobleme bekam ich Bücher geschenkt (und ich las und lese wirklich gern!), die Schreibprobleme wurden durch heimische Diktatübungen meiner Eltern behandelt.
Was ist ADS, wie äußert es sich und wie/wann wird es Diagnostiziert? Hier gibt es Antworten
Die Zeit verging, der Übertritt auf eine weiterführende Schule kam in Sicht, das erste mal wurde es ernst für meine Zukunft. Ohne meine Eltern und Ihre Unterstützung wäre ich wohl, wenn überhaupt, nur gerade so auf die Realschule gekommen. Aber ich schaffte den Übertritt auf das Gymnasium.
Ab der fünften Klasse galten plötzlich andere Maßstäbe. Mit krakeliger Handschrift und immer noch unsicherer Rechtschreibung kam ich den Hefteinträgen nur schwer nach, wurde oft nicht fertig. Hausaufgaben vergaß ich regelmäßig oder fand die Notizen für selbige nicht mehr, genauso wie Hefte, Bücher, Sportzeug, Elternbriefe, Brotzeit. Eine besondere Herausforderung kam in der fünften mit Englisch und der sechsten Klasse mit Latein dazu. Grammatik und Vokabeln lernen, wieder und wieder lesen, wiederholen, abfragen, vergessen, und wieder von vorne. Auswendiglernen im Allgemeinen wurde schnell mein ärgster Feind in der Schule, neben einer Doppelstunde Mathe von 15-17 Uhr, in der ich früher oder später den Faden verlor, träumend abwesend aus dem Fenster blickte oder verzweifelt versuchte, irgendwie das Getuschel der Mitschüler hinter mir auszublenden – meistens vergebens.
Ich kam in die Pubertät. Zu den Fächern gesellten sich Chemie, Physik, Geschichte, Sozialkunde, Wirtschaft, etc. Die Noten wurden schlechter, Schule und Mitschüler für mich immer anstrengender. Ich zog mich in der Schule zurück und wurde daheim laut, unbeherrscht, aggressiv.
Aber mit den wachsenden Problemen entdeckten wir auch einen Lichtblick. Seit meinem fünften Lebensjahr spielte ich Konzertgitarre. Mein Papa, seines Zeichens Gitarrenlehrer, unterrichtete mich und schuf dadurch – ohne es zunächst zu wissen – für mich einen Anker für Aufmerksamkeit, Ausgleich und Ruhe. Hatte ich Anfangs noch Probleme, meine Konzentration über mehr als eine Notenzeile hinweg beisammen zu halten, so entwickelte ich mit der Zeit eine gewisse Routine. Ich nahm an mehreren Wettbewerben für Solo und Gitarrenensembles teil und Schnitt stets gut bis sehr gut ab, parallel dazu besserten sich trotz des vermehrten Aufwands neben der Schule auch stets meine Noten.
In der siebten oder achten Klasse wurde schließlich bei mir ADS diagnostiziert, etwa gleichzeitig begannen einige Mitschüler damit, mich wegen einer schweren Knieverletzung im Sportunterricht zu mobben, öffentlich bloßzustellen und auch physisch gegen mich zu gehen. Alles vor den Augen und ohne Intervention seitens der Lehrer. Die verschriebeneden Tabletten, die gegen die Aufmerksamkeitsprobleme helfen sollten, machten mich zuträglich unberechenbar, latent aggressiv und impulsiv. Eine schwierige Zeit, in der ich mit meinem Gefühlen zwischen Verzeiflung, Hilflosigkeit und Aggressivität hin und her wechselte wie ein Zufallsgenerator und sicherlich nicht nur meinen Eltern graue Haare bescheerte; und ich mich bei dem einen oder anderen Spaziergang auch dabei ertappte, wie ich über sehr unelegante Lösungen für diese Dinge nachdachte. Die Situation eskalierte bis zum stellvertretenden Direktor, als die Klassenlehrerin nichts weiter zu tun gedachte als mir zu erklären, dass ich an allem Schuld sei. Die Schulpsychologin wurde eingeschaltet, daheim konnte ich vor Angst vor dem nächsten Schultag kaum essen, oder schlafen. Beides war für meine schwache Aufmerksamkeit offensichtlich nicht zuträglich. Ich wurde häufig Krank mit Kopfschmerzen, Übelkeit, Kreislaufproblemen, fühlte mich schwach. Daheim versenkte ich im Schreiben von Geschichten und Computerspielen, wurde süchtig nach meiner selbst gebauten oder der virtuellen Fantasiewelt. Während Schulleitung und Lehrer alles ignorierten und nicht wahrhaben wollten, brachten meine Eltern an der Schule die Mundpropaganda ins Rollen, dass es Mobbingprobleme gab und Lehrer diese wissentlich ignorierten. Schlussendlich wurde in der ersten Hälfte der zehnten Klasse unter riesigem Tamtam und Aufsehen ein „Klassenvertrag“ abgeschlossen. Ich war der Schule und meinen Klassenkameraden derart überdrüssig, dass ich mir vor versammelter Klasse im Beisein der Streitschlichter und Lehrer wünschte, man solle mich bitte einfach in Ruhe lassen, nicht mehr ansprechen. Überraschenderweise wurde sich daran gehalten, ich hatte meine Ruhe.
Es lässt sich natürlich nicht nachweisen oder messen, aber ich habe guten Grund zur Annahme, dass die Ruhe und Sorglosigkeit in der folgenden Hälfte des Schuljahres dafür sorgte, dass sich meine Leistung schlagartig um fast 1,5 Noten steigerte. Ich konnte meine überschaubare Aufmerksamkeit wieder auf das Lernen fokusieren. Zudem hatte ich in den fast 3 Jahren mobbing gelernt, mich in Dinge zu vertiefen und darin zu verlieren. Einerseits beim Gitarrespielen, andererseits beim Schreiben. Noch war dieser Ansatz sehr unzuverlässig, mühsam und kaum produktiv, denn es brauchte wirklich sehr lange, bis ich mich in eine Tätigkeit versenken konnte, doch mit den abnehmenden Problemen in der Schule, mehr Ausgeglichenheit und Ruhe wurde ich stetig besser darin. Ich setzte die Tabletten ab und griff nur noch gelegentlich bei Vorbereitung auf Prüfungen darauf zurück, was meine Stabilität zuträglich begünstigte. Als mit der Oberstufe die Klassenverbände aufgelöst wurden, lockerte sich die Situation für mich weiter auf. In meiner Freizeit fuhr ich viel Fahrrad, vertrampelte Stress und geistige Anstrengung in unwegsamen Waldpfäden und machte weiterführende Tanzkurse; beides Aktivitäten, bei denen ich lernte, mich trotz der vollen Umgebung und der Menge an Reizen auf eine bestimmte Sache zu konzentrieren, mich darin zu versenken.
Ich schaffte mein Abitur, begann eine Ausbildung und hatte nun, im Alter von 18 Jahren, meine Aufmerksamkeit endlich soweit unter Kontrolle, dass ich mir selbstständig, ohne Hilfe und Unterstützung neue Dinge aneignen und beibringen konnte. Es dauerte Jahrzehnte, bis ich herausgefunden hatte, wie ich für mich zu lernen habe – sicherlich nicht effizient, aber es funktioniert. Mein „innerer Schweinehund“, wie Ihn meine Eltern häufig nannten, war endlich angeleint und festgebunden.
Heute – mein Abitur liegt ein Jahrzehnt zurück – habe ich gelegentlich immer noch Momente, in denen meine Aufmerksamkeit abschweift oder das Gespräch vom Nachbartisch eine geradezu magische Anziehungskraft auf meine Ohren ausübt. Große Menschenansammlungen, Partys, der Umgang mit Fremdem und Unvertrauten, Disco-Atmosphäre, Reizüberflutung im weitesten Sinne bereiten mir immer noch Probleme und unwohlsein, ein Gefühl des Kontrollverlusts, des Ertrinkens. Aber ich und auch mein Umfeld weiß davon. Ich habe gelernt, damit umzugehen, dass meine Aufmerksamkeit im Alltag nicht so starr ist, wie die von anderen, „normalen“ Menschen. Ich habe gelernt, darüber zu lachen, es zu akzeptieren. Und ich habe gelernt, es zu meinem Vorteil zu nutzen. Während des Studiums passierte es mehrmals, dass ich 20 Stunden und mehr am Stück wie in Trance durchprogrammierte, ohne Pause, Essen oder Trinken. Über den Apsekt der Gesundheit kann man diskutieren, die Effizienz dahinter lässt sich anhand der schieren Menge und einwandfreien Qualität des dabei produzierten Codes nicht von der Hand weißen. Im Verkehr nutze ich meine leicht abschweifende Aufmerksamkeit gezielt, um Bewegungen im Augenwinkel oder Rückspiegel zu beobachten. Ich bekomme Änderungen im Verkehr mit, ohne mich aktiv darum kümmern zu müssen, ohne dabei Unaufmerksam zu werden. Bei Projekten und Planungen lasse ich meine Gedanken gezielt frei, um Denkfehler, mögliche Komplikationen und nötige Folgeschritte ausfindig zu machen und zu handhaben, bevor noch irgendjemand überhaupt soweit gedacht hat. Ich nutze meine Fähigkeit, vom Thema abzuschweifen, für Weitblick, Umsichtigkeit und – ironischerweise – um Dingen Aufmerksamkeit zu schenken, die andere im Tunnelblick der „Normalheit“ übersehen würden.
Die eigenen Schwächen zu Stärken machen – das ist denke ich ein sinnvolles und lohndendes Ziel. Es benötigt unglaublich viel Selbstreflexion und Offenheit, Ausdauer und Geduld. Ein konstruktives Umfeld und eine ganze Menge Humor bei allen Beteiligten. Gebraucht habe ich dafür über zwanzig Jahre. Möglich wäre es nicht gewesen ohne die stetige und unermüdliche Hilfe meiner Eltern. Perfektioniert habe ich es noch lange nicht, im Gegenteil. Immer wieder Beobachte ich mich inzwischen dabei, wie ich mich vor lauter Fokusiertheit und Tunnelblick an unnötigen Hindernissen oder Details festfresse. Aber es ist ein Anfang und ein Weg für mich und andere, mit mir klarzukommen.