„Als Frau in Deutschland habe ich Angst.“
Das war die sinngemäße Kernaussage eines Tweets der Nutzerin @missoggi, über den ich kürzlich gestolpert bin. Dem Originaltweet folgte eine Liste mit Angewohnheiten, die sich die Nutzerin angeeignet hat, um sich sicherer zu fühlen.

Ich habe mal aufgeschrieben, was ich als Frau in Deutschland zu meiner Sicherheit fast schon unterbewusst mache oder beachte, wenn ich alleine unterwegs bin.

Thread.

Oggi (@missoggi) 15. Mai 2019
  • Nicht alleine joggen gehen. Schon gar nicht im Dunkeln / bei Dämmerung.
  • Keine Abkürzungen durch Parks und unübersichtliche Grünanlagen nehmen, wenn sich nur wenige Menschen oder Männergruppen dort aufhalten. Im Dunkeln Grünanlagen generell meiden.
  • Abends/nachts im Auto länger auf jemanden warten, Auto verriegeln.
  • Im Dunkeln zu Fuß einen oder mehrere Männer eher nicht überholen und dann vor ihnen hergehen, wenn sonst niemand in Sichtweite ist. Lieber dahinter bleiben oder die Route/Straßenseite ändern. Abstand halten.
  • Einen Bogen um Gruppen betrunkener Männer machen. Immer.
  • Falls man ungewollt (!) angesprochen wird, ignorieren oder mit lauter Stimme antworten. Besser arrogant als hilflos wirken.
  • Beim Fahrradfahren im Dunkeln Abstand zu Einfahrten und Grünanlagen halten, aus denen jemand herauskommen könnte. Zügig fahren.
  • Bevor man die Haustür / Autotür aufschließt, kurz prüfen, dass kein Mann in der Nähe ist.
  • Wenn man in eher menschenarmen Gegenden zu Fuß unterwegs ist, keine Kopfhörer aufhaben, um sich nähernde Personen nicht zu überhören.
  • Hotelzimmer nachts grundsätzlich verriegeln.
  • Sicherstellen, dass kein Mann zu nah im gleichen Hotelflur ist, bevor man das Zimmer aufschließt.
  • Bei Events mit Fremden (Disco o.ä.): Getränke im Blick oder direkt in der Hand behalten.

Abschließend erklärt Sie:

Für mich sind diese Dinge Sicherheitsmaßnahmen wie das Anlegen eines Sicherheitsgurtes im Auto. Ich habe keine Angst in diesen Situationen, ebenso wenig wie beim Autofahren vor einem Unfall. Es ist aber schon spannend, was einige da so reininterpretieren. 🙂

Ich sage damit nicht, dass es etwas Neues ist. “Das war schon immer so” ist aber für mich kein Grund, etwas nicht zu hinterfragen.

Die Aufmachung des Tweets und das Lesen der Liste sind sehr aufwühlend und stellen Fragen in den Raum. Ist diese Hintergrundangst gerechtfertigt? Ist das Leben hier für Frauen wirklich so unsicher? So gefährlich?

„Ich glaube, du solltest dich in Behandlung begeben wegen chronischer Angstzustände.“ war meine recht spontane, durchaus provokative Antwort, aus der sich im Weiteren eine rege Diskussion ergab.

Doch bevor ich weiter auf die Diskussion eingehe und meine Gedanken dazu ausführe, möchte ich die Liste von @missoggi kommentieren. Zwar suggeriert der Initialtweet, dass es sich dabei um Dinge handelt, die ausschließlich Frauen betreffen. Doch bei isolierter Betrachtung der Liste wird schnell deutlich, dass es sich nicht um Dinge handelt, die Speziell die Existenz als Frau voraussetzen, um ihnen Beachtung zu schenken. Tauscht man das Wort „Mann“ durch „Fremder Mensch“, verwandelt sich die Liste, die vermeintlich die Unsicherheit für Frauen darstellt, in völlig generische Verhaltensmuster, die auch ich als Zwei-Meter-Mann bei mir selbst beobachte.

Dementsprechend muss ich meine allererste Antwort korrigieren. Es handelt sich nicht um chronische Angstzustände, die behandelt werden sollten. Es handelt sich um das natürliche Verhalten einer Spezies, die über keine angeborenen Waffen verfügt und in einer überfüllten, verrohten Gesellschaft lebt, in der statistisch betrachtet jeder zehnte eine psychische Störung hat und 33,3% der Bevölkerung pro Jahr eine psychische Erkrankung aufweisen (https://www.aerzteblatt.de/archiv/134511/Psychische-Erkrankungen-Hohes-Aufkommen-niedrige-Behandlungsrate). Diese genannten Zahlen enthalten freilich die Gesamtmenge aller psychischen Erkrankungen. Diejenigen, die aggressives und gefährliches Potential entfalten sind dementsprechend nur ein Bruchteil. Dennoch veranschaulichen sie, was viele Männer wie Frauen gerne verdrängen: nur, weil der Mensch alle vierbeinigen Raubtiere ausgerottet hat, ist er vor sich selbst – dem aggressivsten Raubtier der Weltgeschichte – noch lange nicht sicher.

Mir ist wichtig zu betonen, dass ich die Angelegenheit nicht verharmlosen möchte. Ich kann sehr gut nachvollziehen, dass Frauen sich ob ihrer physischen Unterlegenheit und anderen Körperstruktur unsicherer fühlen, als Männer. Wichtig ist mir hier allerdings auch zu zeigen, dass es sich keineswegs um Dinge handelt, die ausschließlich Frauen betreffen. Die Punkte der Liste betreffen jeden.

Nachdem der Aspekt des Geschlechts in der Liste nun eliminiert und die vermeintlich aufrüttelnde Brisanz etwas relativiert ist, möchte ich noch ausführlich auf einige weitere Punkte eingehen, die ich im Verlauf der Diskussion ob der Zeichenbegrenzung nicht ausführen konnte, ohne wie ein herablassender Sexist zu wirken.

Auf meine erste Reaktion kam die Antwort „Zieh mal Frauenkleider und hohe Hacken an und lauf abends durch die Stadt“. – @abertrotzdem (https://twitter.com/abertrotzdem/status/1129309149144190976). Leider hat @abertrotzdem nicht weiter ausgeführt, was dann zu erwarten ist, daher ist mein Kommentar dazu stark von meiner Interpretation abhängig. Gleichzeitig bereitet der Beitrag von @abertrotzdem eine hervorragende Grundlage vor, um jede weitere Antwort auf Victim Blaming zu reduzieren. Ich werde dennoch versuchen, so sachlich wie möglich darauf einzugehen.

Mit Stöckelschuhen sind Jeanshose und lockeres Top ebenso vorstellbar wie ein eng anliegendes, extrem figurbetonendes Kleid mit freiem Rücken und einem seitlichen Schnitt vom unteren Saum bis zur Hüfte. Ersteres ist lässig, zweiteres ist sehr elegant. Beides kann sehr attraktiv und durchaus erotisch reizvoll sein und naturbedingt die Aufmerksamkeit auf sich ziehen. Es ist natürlich, schönen und attraktiven Menschen nachzublicken und ihnen Aufmerksamkeit zu schenken. Es ist natürlich, beim Ausgehen gut aussehen zu wollen, etwas Aufmerksamkeit zu erhaschen und andere zu beeindrucken und ich behaupte, das ist einer der entscheidenden Gründe, weshalb Menschen sich schick machen.

Bis zu einem Gewissen Grad muss man bei einem entsprechenden Auftreten mit entsprechender Reaktion rechnen. Attraktivität/“Herausputzen“ hat in der Öffentlichkeit bei Männern wie Frauen einen zunächst ganz primitiven, ursprünglichen Effekt: Aufmerksamkeit. Ob der Effekt eintritt oder nicht, ist unmittelbar an das äußere gekoppelt und gut beeinflussbar. ABER: Kleidung ist auf keinen Fall und niemals eine Einladung oder Aufforderung. Es indiskutabel, (ungefragt) wildfremde Menschen wegen der Kleidung (an intimen Stellen) zu berühren. Denn wir stammend zwar in unserem Verhalten bezüglich Flirt und Paarung von den Primaten ab, sind aber keine.

Auf das von @abertrotzdem gepostete Video zu einer Ausstellung der Kleider von Vergewaltigungsopfern brauche ich dementsprechend nicht weiter eingehen.

Eine weitere Frage, die sich mir im Verlaufe der Diskussion auftat: Inwiefern beeinflusst das politische Klima das Gefühl der Bedrohung durch gewaltbereite Mitmenschen? Unvermeidbar denke ich hier an das Politikum der „Flüchtlingskrise“, bei der 500.000 heimatlose und vertriebene Menschen Grund genug waren für die Gründung inhaltslosen Parolenpartei und eines Online-Waffenshops mit einem Produkt namens „Migrantenschreck“.

Ob das Gefühl einer größeren Unsicherheit faktisch und rational berechtigt ist, müsste man anhand der polizeilichen Kriminalstatistiken der letzten Jahre beurteilen. Bei einem flüchtigen Blick in die Berichte von 2016 und 2017 stellte ich allerdings fest, dass ein einfacher Vergleich einiger Zahlen nicht genügen würde, um eine seriöse Aussage zur realen Bedrohung (für Frauen) zu treffen. Mir fehlt schlicht die Zeit, eine ausführliche Analyse durchzuführen, zudem gab es 2016 auch eine tiefgreifende Änderung im Strafrecht bezüglich Sexualstraftaten und sexueller Belästigung („Nein heißt Nein“), wodurch die Zahlen der verschiedenen Jahre noch schwerer gegenüber zu stellen sind. Sollte jemand Zeit und Lust haben, sich damit eingehend auseinander zu setzen, der kann mir sein Ergebnis gerne via Email zukommen lassen. Mit Sicherheit kann ich sagen, dass der größte Teil an körperlicher und psychischer Gewalt, sexueller Belästigung und Vergewaltigung nicht von fremden Begangen wird, sondern im näheren Bekanntenkreis – mit statistischer Signifikanz zweifelsfrei am häufigsten innerhalb der Familie.

Systeme wie Überwachungskameras sind meiner Ansicht nach keine sinnvolle Lösung. Einerseits, weil die mißerable Qualität in vielen Fällen kaum genügt, wirklich verwertbares Material zu gewinnen, zum anderen können Sie nicht beim Vorfall direkt eingreifen und erst nachträglich unter günstigen Umständen nützlich werden. Außerdem stellt sie alle im Aufenthaltsbereich entgegen der Prinzipien des Rechtsstaates – in dubio pro reo – unter präventiven Generalverdacht. Ich meine mich zu erinnern, ein Bekannter und ehemaliger Polizist hat in einem Gespräch vor einiger Zeit fallen gelassen, dass zwischen überwachten und unüberwachten Bereichen keine statistisch relevanten Unterschiede in der Kriminalstatistik erkennbar sind. Konkrete Zahlen als Beleg dazu habe ich allerdings nicht. Ungeachtet dessen empfinde ich Polizeipatrouillen an prädestinierten Örtlichkeiten als wesentlich flexiblere und effizientere Maßnahme, da sie potentiellen Tätern eine direkte Konfrontation mit Konsequenzen voranstellt und im Gegensatz im Falle eines Übergriffes direkt eingreifen und schlimmeres vereiteln kann.

Ich finde es wichtig, über solche Themen zu diskutieren und sich ausführlich auszutauschen. Ich finde es wichtig, dass Männer Frauen und Frauen Männern zuhören und aufeinander eingehen, denn beide erleben die Welt und unsere Gesellschaft verschieden und sehen und bewerten Aspekte anders. Ich finde es allerdings auch wichtig, sich die Realtitä vor Augen zu halten. Den Anspruch, völlig sorgenfrei über die Oberfläche wandeln zu können, empfinde ich persönlich wenigstens als herzlich naiv, wenn nicht unfreiwillig komisch und anmaßend. Denn ungeachtet der moralischen Ansprüche, ethischen Regeln und Verhaltenskodizes, die als oberste Direktive gehandelt werden, wenn es gerade keine gewinnbringenderen Optionen gibt, ist die Spezies Mensch die erste und einzige in Milliarden Jahren Weltgeschichte, die flächendeckend den gesamten Planeten besiedelt, seine Natur bezwungen und sich selbst aus Meinungsverschiedenheiten und „Landneid“ heraus systematisch und planvoll massakriert, abgeschlachtet und dahingerafft hat.

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