Dass die Medienkompetenz der alteingesessenen Politiker überschaubar, als Punkte auf einer Skala von eins bis zehn auch ohne Hand an der Selbigen abzählbar ist und sich damit jenseits des Skalaminimums befindet, ist spätestens seit dem 19. Juni 2013 weitläufig bekannt. An diesem Tag hielt Bundeskanzlerin Angela Merkel ihre historische Rede mit der denkwürdigen Aussage „das Internet ist für uns alle Neuland […]“
Seitdem sind nun knapp sechs Jahre vergangen, das Internet feiert 2019 sein dreißigjähriges Jubelfest und man könnte angesichts der vielen Abgeordneten und Minister, die während der Debatten im Bundestag twittern oder Online-Schach spielen, erwarten, dass sich inzwischen eine gewissen Vertrautheit mit diesem „neuen“ Medium a.k.a. „Neuland“ eingestellt hat. Längst hat jedes Ministerium und jeder halbwegs relevante Regionalpolitiker einen Auftritt in den einschlägigen Social Media eingerichtet. Die Realität aber enttäuscht.
Besonders auffällig – beinahe rekordverdächtig – war die Inkompetenz unserer Politiker im Umgang mit diesen neuen Medien während des Polit-Krimis um die EU-Urheberrechtsreform zu beobachten. So bezeichnete die EU-Kommission die Demonstrationen gegen die fragwürdige Urheberrechtsreform in einer Veröffentlichung auf der Bloggignplattform „Medium“ in der Überschrift des Textes als Mob (inzwischen wurde die Überschrift geändert). Ungeachtet der Tatsache, dass von einer demokratischen Instanz eine professionellere Bezeichnung für tausende Demonstranten erwartet werden kann und man kein PR-Genie sein muss, um einen Shitstorm ohnegleichen vorauszusehen, zeigt die Formulierung und die Naivität der Veröffentlichung doch das kaum vorhandene Verständnis für die extrem schnelle Welt der Social Media und die altbackene Herangehensweise an Veröffentlichungen, wie man sie aus analogen Pressemitteilungen und Zeitungsartikeln kennt.
Neue Medien und ihre Eigendynamik
Während Social Media eine beinahe verzögerungsfreie Kommunikation in beide Richtungen ermöglicht, stellt sich der Kommunikationsfluss in den alten Medien als vergleichsweise träge und „quasi“-Einbahnstraße dar. Bis eine Pressemitteilung veröffentlicht wird, dauert es wenigstens Stunden, wenn nicht Tage. Leserbriefe, egal, welcher Art, brauchen abermals Stunden bis Tage, um abgedruckt zu werden und werden zudem durch die Redaktion des Verlegers gefiltert, sodass im Zweifelsfall nur das gedruckt wird, was die eigene Agenda des Verlegers oder Autors unterstützt. Kritische Stimmen können potentiell einfach stumm gestellt werden, das öffentliche Klima der Rückmeldungen ist gut kontrollierbar. Die Ziel- und Empfängergruppe ist durch die etablierte politische Färbung des Verlegers fast deckungsgleich und die Reichweite lässt sich mit jeder Auflage beinahe auf hundert Kontakte genau voraussagen.
Ziemlich ähnlich, aber sehr viel unmittelbarer verhält sich die Kommentarfunktion unter den Artikeln einer Website. Dort kann sofort nach Veröffentlichung des Textes geantwortet werden, allerdings obliegt die Moderation natürlich dem Website-Betreiber und stellt ebenfalls eine Filtermechanik dar.
Und dann gibt es da noch diese sozialen Plattformen, wie Twitter. Diese Medien – und Twitter insbesondere – konfrontiert die alten Mediennutzer nun mit Eigenschaften, die richtig eingesetzt geniale Wirkung, falsch eingesetzt aber auch fatale Reaktionen erreichen können und werfen die gewohnte Medienhandhabung dementsprechend durcheinander. Die Veröffentlichung geschieht in Echtzeit, die Reaktionen geschehen ebenfalls absolut unmittelbar und es gibt keine Möglichkeit, Kommentare zu moderieren – kein Filter, um das Kommentarklima zu manipulieren. Mit jeder Verwendung von Nutzernennungen und Hashtags im Texts erhält ein Tweet zudem eine weitere Dimension, in der er beinahe ungehindert die Empfängerschaft hoch skalieren kann, und verringert damit expotentiell den Anteil der tatsächlichen, geplanten Zielgruppe in der Menge der Gesamtempfänger.
Im Gegensatz zur analogen Welt, in der die Zeitung von gestern am nächsten Tag bereits im Altpapier liegt, sich sogar schon auf dem Weg in die Verbrennungsanlage befindet, oder vergessen ist, behält eine Veröffentlichung auf Twitter über Tage hinweg seine Relevanz und – schlimmer noch – verbreitet sich durch seine vielen verfügbaren Dimensionen stetig weiter, jenseits der Grenzen der Ursprungsempfänger. Der hohe Grad der Weiterverbreitung ist auch mit eine der Ursachen für die Binsenweisheit „das Internet vergisst nichts“. Es ist unmöglich, eine Nachricht, die als Original tausende Server, Internetanschlüsse und Bildschirme passiert hat und hunderte male zwischengespeichert und archiviert wurde, wieder zu löschen.
Anfängerfehler der Politikerelite beim Spiel mit dem Feuer
Das musste beispielsweise Manfred Weber (@ManfredWeber), Vorsitzender der EVP (@EPP_GROUP), schmerzhaft lernen. Nachdem über Twitter bekannt geworden war, dass seine Fraktion im EU-Parlament die Abstimmung über die EU-Urheberrechtsreform vor den Termin der angekündigten europaweiten Großdemonstrationen ziehen wollte, um den Gegnern der Reform die Stimme zu nehmen, versammelten sich deutschlandweit mehrere tausend Demonstranten spontan vor den Parteigebäuden der CDU und protestierten gegen den demokratisch fragwürdigen Zug. In einem Interview am selben Abend mit der ARD erklärte Weber ausdrücklich, man werde die Abstimmung sicherlich nicht vorziehen.
Am nächsten Morgen jedoch berichtete Julia Reda aus der informellen Sitzung, die EVP habe erneut einen Antrag auf Vorzug gestellt, dieser sei jedoch geschlossen von den anderen Mitgliedern des Parlamentes abgelehnt worden. Die Reaktion schlug sich in einem heftigen Shitstorm auf den Twitterwänden von Weber, der „CDU CSU im EU-Parlamanet, der EVP und der CDU/CSU Deutschland nieder und binnen Minuten etablierte sich der Hashtag „#luegenmanni“ (für lügender Manfred).
Unmittelbar nach Webers unelegantem Fauxpas, der später von seinen Kollegen als „überspezifisches Dementi“ bezeichnet wurde ( auf Deutsch auch bekannt als „alternative Fakten“,“Lüge“), leistete sich die Politik einen weiteren Fehltritt, der in Print, Funk und Fernsehen kaum aufgefallen und beinahe unmöglich gewesen wäre. Denn Julia Reda wurde aufgefordert, ihren Berichterstattungstweet über besagten Vorzugsantrag der EVP zu löschen. Die Abgeordnete der Piratenpartei folgte der Aufforderung mit einem subtilen Kommentar, es sei nur gewünscht, die Ergebnisse der Sitzung zu kommunizieren, jedoch nicht den Verlauf. Abermals eskalierte die Nutzerschaft von Twitter, nur Sekunden später fluteten Screenshots des gelöschten Beitrags die Plattform und ein weiterer Shitstorm braute sich zusammen.
Der über sechzigjährige Bundestagsabgeordnete Heribert Hirte (CDU) tat sich in der Debatte um die Urheberrechtsreform durch sein kleinkindhaftes Verhalten besonders hervor. Statt auf die kritische, durchaus berechtigte Frage eines Nutzers einzugehen, antwortete er mit der einzig wahren und öffentlichkeitstauglichen Antwort, die einem hier als hauptberuflichem Politiker in den Sinn kommen kann.
„Nur dass ich mehr Follower habe als Sie.“
Heribert Hirte (CDU), 61
Ein weiteres, prominentes Gesicht der Politik und geballten Medieninkompetenz – oder Ignoranz – ist Axel Voss, der sich in unzähligen Interviews durch teilweise atemberaubende und haarsträubend falsche Aussagen und Behauptungen bezüglich des Richtlinientextes und technische Begebenheiten als absolut medien- und technikfremd bewies, wenn man sich mit den üblichen politischen Antworten nicht zufrieden gab und zu konkreten Fragen der Umsetzung oder Gestaltung nachhakte.
In einem seiner hellsten Momente während eines Interviews mit VICE wusste Voss unter anderem zu erzählen, dass es bei Google eine extra Kategorie für Memes gibt. Dass es sich bei dem später von seiner Partei online mittels Screenshot angeführten Beweis nicht um Kategorien, sondern um einen Vorschlag für weitere und häufig verwendete Suchbegriffe in dieser Kombination handelte, lasse ich an dieser Stelle unkommentiert. Da die Menge der Interviews den Rahmen sprengen würde, habe ich hier eine Übersichtssammlung mit den größten Glanzmomenten von Axel Voss erstellt.
Erwähnenswert ist, dass es sich bei den aufgeführten Beispielen nur um eine kleine Auswahl von etlichen ungeschickten Manövern und Aussagen handelt, die sich die Politik im Internet allein im Verlauf der EU-Urheberrechtsreform leistete.
Die Shitstorms gegen die verschiedenen Accounts und Mitglieder der CDU/CSU und EVP halten zum aktuellen Zeitpunkt – Wochen später – immer noch an und fluten die Kommentare aller Beiträge mit Hashtags wie #niemehrcdu, #niewiedercsu, #niemehrspd, #axelsurft
Anmerkung: Letzterer Hashtag ist eine wahre Goldgrube an Witzen und Memes über das Verständnis des Internet des tatsächlich ziemlich uninformierten Axel Voss
Mein Fazit
Der Wille, die politischen Inhalte auszublenden und sich rein auf das Geschick oder Ungeschickt in Angelegenheiten der Kommunikation zu konzentrieren, ist freilich müßig und nur bedingt erfolgreich. Zu groß und wichtig ist die Rolle, die politische Agenda und Ziele der Hauptfiguren in der Thematik spielen, um sie einfach beiseite fallen zu lassen. Ein politisch wertungsfreier Kommentar ist – zumindest für mich – nicht möglich.
Die unbeholfenen Versuche, Wahrheiten zu verdrehen und eine für die eigenen Ziele optimierte Realitätsdarstellung zu erschaffen, erinnern mich eher an die kleinlaute Lüge eines Kindes, das mit Schokoladenrand auf den Lippen von den Eltern beim mitternächtlichen Naschen erwischt wurde, als dass ich den Eindruck gewinne, es mit professionellen Politikern zu tun zu haben, die auf Basis von Meinungsbildung und Meinungsmehrheit ihre Brötchen verdienen. Angesichts dessen stellt sich mir nicht nur die Frage, inwieweit unsere Politik überhaupt kompetent für Kommunikationsangelegenheiten ist – seien es Debatten, Vermittlungen oder Verhandlungen -, sondern auch, ob überhaupt noch ein nennenswerter Bezug zur Realität besteht, der für die Arbeit der Politik im Sinne der Gesellschaft zweifelsohne unverzichtbar ist. Der Geist unserer Zeit scheint spurlos vorübergegangen zu sein, das Verständnis der Welt ist das von vor dreißig Jahren und inzwischen reichlich eingestaubt.
Ich bezweifle, dass das Verständnis der meisten Politiker für unsere aktuellen gesellschaftlichen Probleme und die neuen Lebens-, Gesellschafts- und Wirtschaftsräume ausreicht, um über zielgerichtete Lösungsansätze nachzudenken, geschweige denn sinnvolle Entscheidungen zu treffen.
Der Zug der modernen Gesellschaft mit all seinen Problemen, Wünschen und Änderungen scheint haltlos an den meisten vorbeigefahren zu sein, ohne einen nennenswerten Eindruck hinterlassen zu haben. Entgegen des gewohnten Bildes des verspäteten Zugs ist es in diesem Konstrukt der Passagier, der dreißig Jahre verspätet am Bahnhof ankommt, sich wundert, und dann orientierungslos und wirres Zeug redend an der Bahnsteigkante herumirrt.
Hat man gerade noch gegen den Willen von 5 Millionen Petitionsunterzeichnern und zweihunderttausend Demonstranten mit offensichtlichen Lügen, Manipulation und unlauteren internationalen Deals eine technisch nicht umsetzbare Reform durchgeboxt und die Bevölkerung nach Strich und Faden zum Narren gehalten, so ist ein Manfred Weber oder Axel Voss nun schon wieder fleißig damit beschäftigt, die anstehenden EU-Wahlen und sich selbst als einzig wählbare Option zu propagieren. Kalkuliert wird dabei offensichtlich mit der Vergesslichkeit der alten Medien, die zwei Tage später längst im Papiermüll liegen oder schon wieder recycelt sind. Was bei der Kalkulation offensichtlich nicht berücksichtigt wurde, waren die eigene Unfähigkeit und das Geschick etlicher einzelner Akteure, für die Interessen einer Lobbygruppierung eine ganze Generation und hunderttausende Künstler und Wissenschaftler gegen sich aufzubringen, zu beleidigen und zum erklärten Feind zu machen. Diese Leistung ist wahrscheinlich – verglichen mit den oben angeführten Beispielen – der bei weitem eindruckvollste Beweis und gleichzeitig umfangreichstes Beispiel für die miserable und äußerst mangelhafte Medienkompetenz unserer Politik.